Warum wir uns beim Riechen und Schmecken oft so schwertun
Mache Weinfans gruseln sich bei dem Gedanken, mit Fachleuten eine Weinprobe zu machen. Da könnte man sich ja blamieren, weil man den Wein nicht beschreiben und Aromen nicht sicher erkennen kann. Dabei fällt das Riechen und Schmecken feiner Nuancen allen Menschen schwer.
Unser Geruchssinn basiert auf dem „olfaktorische System“, das sich ganz oben in unserer Nase befindet. Dort, in einem kleinen Bereich von der Fläche eines Zwei-Euro-Stücks wohnt die Magie des Riechens. Millionen von winzigen Helden namens „Duftstoffrezeptoren“ leben dort. Diese Duftstoffrezeptoren sind wie Spürhunde für Düfte. Sie können die Gerüche wahrnehmen, die wir einatmen, wenn wir durch die Nase atmen. Aber sie können auch die Düfte erkennen, die entstehen, wenn wir Essen kauen. Diese Essensdüfte steigen über eine geheime Brücke zwischen dem Mund und der Nase in die Nase hoch. Und dort oben auf den Schleimhäuten sorgen die Duftstoffrezeptoren dafür, dass wir all die tollen Gerüche riechen können!
Dabei sollten wir bescheiden bleiben: Andere Lebewesen haben einen viel besseren Geruchssinn. So sind Hunde echte „Spürhunde“ und der menschlichen Sensorik um Faktor zehn überlegen. Das Reh übertrifft den Hund aber nochmal um weitere 50 Prozent mit einer Rekordzahl von 360 Millionen Riechzellen in seiner Nase.
Wie wir Aromen lernen
Kennt Ihr das? Da liegt einem ein Weinaroma im wahrsten Sinne des Wortes auf der Zunge; aber es will einfach nicht rauf ins Gehirn. Äh, das schmeckt, äh, nach, äh… Erst, wenn der Winzer gnädig ist und die Lösung verrät, schmeckst Du es auch: „Dörrobst im Abgang! Aaaah – dankeschön!“
Bei Weinproben wäre man also gerne ein Reh. Statt dessen muss Du Dich da auf die Sensorik verlassen, die Mutter Natur Dir mitgegeben hat. Und natürlich auf Deine Erfahrung (sofern welche vorhanden ist). Wir Laien haben mangels Übung und Vergleichsmöglichkeiten oft ein Problem damit, aus einem wilden Gemisch von Aromen die „weiße Johannisbeerblüte“ herauszuschmecken.
Warum ist das so? Es liegt wohl daran, wie wir Aromen lernen. Erinnern Sie sich noch an ihre erste Erdbeere? Das knallrote Ding in Mamas Hand? Es verschwand kurz unter der Nase, und dann: Bäng! – eine Explosion von Erdbeeraroma! So kann jeder „Erdbeere“ schmecken. Aber als Nebenton zu Brom-, Him-, Heidel-, Jostabeere und Cassis? Das ist viel schwieriger!
Der „Dörrobst-Effekt“ kann alle treffen
Auch Fachleute haben nicht immer den perfekten Geruchssinn, aber durch Training und ein immer umfangreicheres Repertoire an Fachbegriffen können sie sich in eine Aura des über alle Zweifel Erhabenen hüllen. Dabei sind sie genauso anfällig für Fehleinschätzungen wie wir Laien. Den oben beschriebenen Dörrobst-Effekt habe ich schon mal in einem Fortgeschrittenen-Seminar beim Deutschen Weininstitut erlebt. Der Trainer hatte uns einen Wein zur Blindverkostung eingeschenkt, und wir sollten beschreiben und raten, was es ist. Statt dessen: Stille.
Der Wein war recht verhalten in Duft und Geschmack, und wir nach vielen vorangegangenen Durchgängen etwas schlaff in der Nase. Ich schnupperte wie wild an dem rätselhaften Wein, dann nippte ich. Könnte das? Ach nee! Ich nippte nochmal. Wieder nichts. Nach den sechsten Nippen war das Glas leer, und ich betrachtete es versonnen. Halblaut rutschte mir raus: „Leicht flüchtig…“. Gemeint hatte ich nur, dass der Wein so schnell aus meinem Glas verschwunden war, der Trainer aber verstand wohl „leichtflüchtige Säuren“.
Leichtflüchtige Säuren sind in geringen Konzentrationen schwer wahrnehmbare Carbonsäuren wie Essig- oder Ameisensäure und deren Verbindung mit Alkoholen. Man nimmt sie als Anflug von Lösungsmittel wahr. Und genau das dachte der Trainer, schnupperte hektisch an seinem Glas und bestätigte mir schließlich, dass das immer mal sein könnte, etwa durch spontanen biologischen Säureabbau usw. Ich habe an dem Tag gelernt: Auch Fachleute sind anfällig für den Dörrobst-Effekt, und im Brustton der Überzeugung kann man bei einer Weinprobe (fast) alles behaupten.
Quitte geht immer
Natürlich sollte man diese Erkenntnis nicht schamlos ausnutzen. Aber zur „Selbstverteidigung“ kann man es anwenden. Wenn Ihr das nächste Mal mit „Weinexperten“ verkostet, die von Akazienblüten, Pflaumenhaut und wildem Fenchel schwärmen, dann haltet doch mal dagegen: „Quitte!“ funktioniert bei Weißweinen praktisch immer. Und mit „Waldbeeren“ liegt ihr bei Rotwein nie ganz falsch. Passt aber auf, den Winzer nicht zu beleidigen: „Wie heißt nochmal das Aroma von diesen Karnevalskamellen?“ ist immer die falsche Frage und wenig wertschätzend!
Will man unter Fachleuten mitreden, kann man sich auch mit dem „Aromarad“ des deutschen Weininstituts behelfen. Ich nutze es gerne in meinen Weinseminaren. Passt aber auf, dass Euch der Dörrobst-Effekt nicht auf dumme Gedanken bringt! Manche Leute nehmen bei Verwendung des Aromarads nämlich Aromen wahr, die gar nicht da sind. Erfahrungsgemäß ist immer einer dabei, der irgendwas Abwegiges riecht oder schmeckt, oder das zumindest behauptet. Ein besonderer Aromakandidat dafür ist „Geranie“. Ja, genau: Die Fensterbank-Geranie. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen: Wenn das nochmal einer riecht, wird ein Vorsorgetermin beim HNO-Arzt gemacht. Aber wenn es einer meint zu schmecken, wählen wir den önologischen Notruf: Ab in die ernährungspsychologische Bereitschaftspraxis! Lassen Sie sich helfen!
Fotos: Nikoli Afina auf Unsplash (Gewürze), Irene Kredenets auf Unsplash (Erdbeere)